Kirchen schrumpfen im Rekordtempo Die ungebremste Entchristlichung Deutschlands Von Stephan Köhnlein 21. Dezember 2009, 15:51 Uhr
An Heiligabend werden die Kirchen wieder voll sein. Doch die Realität sieht anders aus: Immer weniger Deutsche gehören einer christlichen Kirche an. Der Trend der vergangenen Jahre hat sich sogar weiter verschärft, die Kirchenaustritte nahmen den letzten verfügbaren Zahlen zufolge noch einmal deutlich zu.
Foto: AP Leerer Dom in Magdeburg: Die Zahl der Kirchenaustritte nimmt zu
Die gut besuchte Kirche an Heiligabend und Weihnachten verleitet zum Trugschluss. Denn schon am Sonntag darauf verlieren sich eine Handvoll Menschen in den Bänken.
Längst schon haben sich die Kirchen haben sich darauf eingestellt, dass sie immer kleiner werden. „Ganz realistisch: Die Gesellschaft schrumpft in Deutschland, und das wird auch die evangelische Kirche betreffen“, sagt etwa die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann.
Zugleich betont die Hannoversche Landesbischöfin aber auch, dass noch immer zwei Drittel der Menschen in Deutschland Mitglied einer Kirche sind: „Das ist ein sehr relevanter Faktor, aber der wird manchmal runtergespielt, als wären wir bei zehn Prozent angelangt.“
Doch wenn sich nicht bald etwas ändert, könnte dieser Fall in einigen Jahrzehnten tatsächlich eintreten, denn die Kirchen schrumpfen noch schneller als die Gesellschaft. Laut Deutscher Bischofskonferenz nahm die Zahl der Katholiken im Jahr 2008 um 284.000 ab. Die Gesamtzahl der Menschen in Deutschland sank im gleichen Zeitraum lediglich um 215.000.
Mit Besorgnis blicken die Kirchen besonders auf den demografischen Wandel, dabei gerät ein anderes Problem in den Hintergrund. Rund 120.000 Mitglieder verlor die Katholische Kirche im Jahr 2008 nämlich durch Austritte. Aus der Evangelischen Kirche traten sogar 160.000 Menschen aus.
Kirchensteuer als Grund für den Austritt?
Für einen Anstieg sorgte dabei Ende des Jahres 2008 die Änderungen bei der Besteuerung von Spekulationsgewinnen. Da die Banken die Kirchensteuer auf die Gewinne nun direkt abführen konnten, sei bei vielen Menschen das Missverständnis entstanden, es handele sich um eine neue Steuer, erklärte der evangelische Oberkirchenrat Thomas Begrich bei der Vorstellung der Zahlen für die EKD. Deshalb hätten viele Menschen die Kirche verlassen. Im Vergleich zum Vorjahr waren das rund 30.000 Protestanten mehr. Bei den Katholiken stieg die Zahl der Austritte um rund 28.000.
Möglicherweise wird die Zahl der Austritte in 2009 erneut zunehmen: Denn nach der umstrittenen Papst-Entscheidung zur ultrakonservativen Pius-Bruderschaft verzeichneten einige Städte deutlich höhere Kirchenaustrittszahlen. Davon könnte sogar die Evangelische Kirche betroffen sein. Die Vergangenheit hat nämlich gezeigt, dass bei umstrittenen Entscheidungen des katholischen Kirchenoberhaupts immer wieder auch Protestanten ihrer Kirche den Rücken kehrten.
Auch die Kirchensteuer wird immer wieder als Grund für den Austritt angeführt. Die Kirchen halten dem entgegen, dass dieses Geld in erster Linie in Personalkosten fließt und in der Betreuung von Kindern, Alten, Kranken und Behinderten wieder der Allgemeinheit zugute komme.
„Gäbe es die Kirchensteuer nicht, müssten wir uns aus zahlreichen Aktivitäten etwa im karitativen Bereich verabschieden, die dann andere, etwa der Staat, zu übernehmen gezwungen wären“, warnt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch.
"Nur den Neunten von der Steuer"
Außerdem nehmen die Kirchen mit in der Regel neun Prozent von der gesamten Lohnsteuer deutlich weniger als in der Bibel vorgesehen. Dort steht „Du sollst den Zehnten geben“. In Deutschland gilt: „Nur den Neunten von der Steuer, die Du bezahlst“. Biblisch gesehen, so die EKD-Ratsvorsitzende Käßmann, sei das also eher ein minimaler Beitrag. Bei einem verheirateten Arbeitnehmer mit zwei Kindern und einem Monatsbruttoeinkommen von 3000 Euro sind das in der Steuerklasse III nach Berechungen der EKD gerade einmal 3,40 Euro.
Für die Kirchen bedeutet der Mitgliederschwund auch massive finanzielle Einbußen, obwohl die Anforderungen in vielen Bereichen sogar noch wachsen – etwa bei der Betreuung alter Menschen. Verschärft wird die finanzielle Situation der Kirchen durch die jüngsten Steuerentlastungen, denn niedrigere Steuern bedeuten auch weniger Kirchensteuern.
Doch trotz all dieser Probleme – es gibt auch den einen oder anderen Hoffnungsschimmer. In ganz Deutschland gibt es immer wieder Gemeinden aller Konfessionen, die gegen den Trend wachsen, viele davon mit jungen Menschen. Die Evangelische Kirche verzeichnet zudem rund 60.000 Wiedereintritte pro Jahr, eine Zahl die Käßmann gerne ausbauen möchte. „Mir liegt daran, einladende und offene Kirche zu sein, den Menschen deutlich zu machen, dass wir sie begleiten an den großen Übergängen in ihrem Leben“, sagt sie und fügt hinzu: „Die Geburt eines Kindes oder der Tod eines Angehörigen, das sind oft Anlässe für einen Wiedereintritt.“
Und auch Zollitsch glaubt: „Letztlich suchen die Menschen Halt, Bindung und Orientierung in einer schnelllebigen und unübersichtlichen Welt. Die können wir anbieten, wenn wir unsere Botschaft in besser verständlicher Weise vermitteln.“